Schwimmen in der Kult-Ursuppe

Im letzten Sommer hat mir der C-Wahnsinn ein Geschenk gemacht. Nachdem Schwimmen im See ohne Test nicht mehr erlaubt war, entdeckte ich vor meiner Haustüre das Bade-Paradies. An einem aufgestauten Stück der Sattnitz, einem „Seitenarm“ des Wörthersees, steige ich ins herrliche, durch den langen Fluss noch reinere Seewasser und schwimme mit leichtem Gegendruck „gegen den Strom“ in Richtung See. Täglich, wenn möglich morgens vor der Arbeit und nachmittags.
Obwohl ich seit 25 Jahren nur wenige Meter entfernt wohne, wusste ich nicht, dass das Publikum hier so bunt ist wie kaum wo anders in dieser Stadt. Will man in Zeiten von Reisebeschränkungen andere Kulturen kennenlernen, kann man das hier tun. Während die Ureinwohner mit ihren Sommerwohnsitzen entlang des Flusses eher der betuchten Oberschicht der Stadt zuzuordnen sind, sammelt sich im aufgestauten Volksbad etwas östlicher ein Potpourri an Menschen von Nah und Fern. Ob Hundebesitzer, St. Ruprechter „Assi“, Heimbewohner des nahegelegenen Asyllagers, entspanntes Pensionisten-Ehepaar, ob Biker, Läufer, Tourist auf Abwegen oder mein ehemaliger Professor oder Uni-Rektor – hier schwimmt alles in derselben Suppe. Eine Gruppe junger Kurden, die Körper mit frischen Wunden und alten Narben übersät, die zum Teil durch Selbstverletzung entstanden,  hat uns kürzlich mit Gebärden von ihrem Fußmarsch über die Grenze „erzählt“. Kein Wort außer ihrer Muttersprache verstanden sie. Die schwarz verhüllten Afghaninnen und Tschetscheninnen mit ihrer großen Kinderschar tauchen hier in die kühlenden Fluten … Syrer, Türken, Ukrainer, Afrikaner, Latinos … es ist ein idealer Platz für Nichtschwimmer, denn man hat immer Boden unter den Füßen. Die geschnörkelten arabischen Gesangskaskaden treffen hier auf Salsa-Musik vom anderen Ufer. Man kann beobachten, wie Familien hier interagieren, wie die Rolle von Mann und Frau in Ländern des Ostens ist, wie man muslimisch picknickt, betet, Chai trinkt und wie unterschiedlich die Kommunikation der „Ausländer“ mit den Einheimischen ist. Während einige höflich das Gespräch suchen, wirken andere abweisend, uninteressiert oder unhöflich.
Etwas ist mir jedoch aufgefallen: wenige deutschsprachige Menschen die ich hier treffe, folgen dem Meinungs-Mainstream, der besonders in den letzten zweieinhalb Jahren nahezu diktatorisch und flächendeckend auf uns einhämmert. Die meisten hier zweifeln an den offiziellen „Wahrheiten“ und machen sich selbst ihre Gedanken. Nie habe ich an dem Ort einen Impffanatiker getroffen, sehr wohl aber viele Skeptiker und kritisch denkende Menschen. Liegt es wohl daran, dass Menschen, die sich ohne Berührungsangst mit der Natur und Weltkultur verbinden, andere Bedürfnisse haben, als medial ferngesteuerte „Sicherheitsfanatiker“, die sich nur mit einer All-inclusive-Generali-Versicherung, Warn-App, Faktencheck, Gurten, Helm, Maske und Impfschutz durchs „Leben“ trauen?

Wir sind Kinder der Freiheit

Aus meiner Kindheit erinnere ich mich, dass wir genauso frei waren, wie diese Kinder hier, die zum Teil mit sechs, sieben oder acht Jahren allein mit dem Fahrrad zum Fluss kommen und unbeaufsichtigt den Tag verbringen. Niemand läuft hinterher mit Schwimmflügeln, Sonnencreme oder Jause, sie schlagen sich alleine durch, lernen voneinander und miteinander schwimmen und wenn sie hungrig sind, gehen sie wieder nach Hause. Auch wir waren frei wie die Vögel, damals im ländlichen Kärnten. Nach dem Frühstück gingen wir, mein Bruder, ich und alle Kinder des Dorfes Sommer wie Winter hinaus und bei Einbruch der Dunkelheit kamen wir zurück, hungrig und oft mit aufgeschlagenen Knien. Dazwischen hat niemand gefragt, wo wir sind. Selten ist etwas passiert und wir haben gelernt, auf uns und aufeinander aufzupassen und Probleme oder Konflikte selbständig zu meistern. 

An heißen Tagen tummelt sich hier an der Schleuse mit darunterliegendem „Whirlpool“ die Welt zuweilen dicht an dicht. Doch sehr oft gehört mir das idyllische Bad, die von wilden Lilien, Rosenbüschen, Schilfpflanzen, blühenden Sträuchern und Bäumen garnierte Uferlandschaft entlang meiner Schwimmstrecke ganz allein. Manchmal begegne ich einer Fluss-Amazone mit rotem Kajak, die mit Leichtigkeit über das Wasser gleitet und eine Spur von indianischem Freigeist nach sich zieht. Während sich das türkise Wasser vor meiner Nase kräuselt und die springenden Fische vor mir her tänzeln, beginnt sich mein Körper in dem weichen, warmen Wasser zu entspannen, saugt es in sich auf, speichert die Stoffe und die Energie des Flusses. Danach bin ich nicht nur leichter, weil ich Gedanken und Gefühle loslasse, die nicht mehr gewünscht und gebraucht werden, sondern auch voller von dem, was mir Kraft gibt. Wie Siddharta, der am Ende seiner abenteuerlichen Pilgerreise und nach einem Abstecher in die Welt des Reichtums und Überflusses motivations- und kraftlos beim Fährmann am Fluss landet, wo er alles findet, wonach er vorher ein Leben lang gesucht hat.

Höre die Botschaft des Flusses
Der Fluss ist weise. Er zeigt dir alles, er hört, sieht und weiß alles. Die Menschen aus aller Herren Länder und aus allen sozialen Schichten lassen ihre Geschichten hier, tauchen ein und lassen los, sammeln und vereinen sich in der Ursuppe des Lebens zu einem Großen-Ganzen. 
Wie eine Monade, als selbständiger und vollwertiger Teil des Universums, bahne ich mir schwimmend den Weg zur Quelle, die mit all ihrem Potenzial in jedem Moment immer schon in mir ist. 

Waltraud Isimekhai