Ich schreibe, also bin ich

Bin mal kurz weg
Mein kürzester und nachhaltigster, zugleich rücksichtslosester Text bestand aus vier Worten, auf einen Wirtshausblockzettel gekritzelt und auf dem Küchentisch für meine Eltern, die selten zuhause waren, hinterlegt: „Bin nach Florenz ausgewandert“. Meine Matura hatte ich kurz zuvor nach einer anstrengenden Interrail-Reise mit Ach und Krach absolviert und nachdem es damals weder ein Smartphone, noch eine fixe Adresse gab, wo ich zu erreichen gewesen wäre, hatte ich längere Zeit Ruhe, um meine Gedanken zu sortieren und schließlich nach mehreren Monaten von Heimweh geplagt und hungrig zurück nach Hause zu kehren.

Abgesehen vom Schreiben in der Schule begann ich schon früh, Tagebuch zu führen. Wie viel muss so ein Buch aushalten, ohne zu platzen: Geheimnisse, Liebesleid, Höhen- und Tiefflüge, aber auch Ideen, Konzepte, Zukunftsvisionen … Gedanken und Erlebnisse eines aufregenden, vielseitigen und oft unkonventionellen Lebensweges.

Alchimie der Sprache
Nachdem ich aus der faszinierenden Künstlerstadt am Arno mit meinen acht Wohnsitzen in Studenten-WGs wieder in die enge Karawanken-Provinz zurückgekehrt war, entschied ich mich, „irgendetwas“ zu studieren. Die erste Wahl war Germanistik, im Nebenfach Philosophie – den Deutschunterricht fand ich immer sehr spannend und meine Professorin  „cool“.  Von den Seminararbeiten erinnere ich mich besonders an eine über „Die Blendung“ von Elias Canetti, ein erzählerisches Meisterwerk. Faszinierend, wie er Sprache und Stilmittel beherrschte und damit schräge, exzentrische Charaktere und Situationen voll Komik schuf. Sprache ist wie Alchimie, mein Zaubermittel, um aus dem Korsett gesellschaftlicher Strukturen, eingefahrener Gedankengänge und einengender Glaubenssätze auszusteigen: spielen, experimentieren, kreieren, inszenieren, planen, materialisieren, transformieren … Geht es dir schlecht, erfinde dich neu, geht es dir zu gut, erschaffe ein Drama. Wie viele der großen Autoren haben selten ihre Schreibstube verlassen und doch die phantastischsten Abenteuer für die Nachwelt geschaffen?
Das Gehirn ist ein Universum, die Sprache sein Werkzeug, sie fließt direkt in deinen Stift/deine Tastatur und lässt immer neue Welten entstehen. Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt, dieses Zitat von Ludwig Wittgenstein begleitet mich seit meiner Jugend.

Schreiben über die Stadt der Zukunft
Eine andere Leidenschaft war das Briefeschreiben, in den 70/80er Jahren war das Modell „Brieffreund“ das, was heute Tinder, Facebook, die Vielzahl der Chat-Foren oder Instagram bieten. Wie man zu den Kontakten in der Zeit vor dem Internet kam, kann ich heute nicht mehr nachvollziehen, auf jeden Fall liebte ich die Kommunikation mit Brieffreunden aus aller Welt, die ich zum Teil auf Reisen kennenlernte.
Die Spur zu einem dieser Kontakte in Holland verlor sich, als ich 18 Jahre alt war. Nach 40 Jahren entdeckten wir uns via Facebook wieder und in den letzten drei Jahren entstand ein tausendseitiges „Sprechblasen-Buch“ im Messenger, eine Art Tagebuch zu zweit, wo wir Gedanken, Fotos und Videos vornehmlich über das Zeitgeschehen und die neu entstehende Stadt der Zukunft, Almere teilten.

Neunmal bin ich bisher in die „Growing Green City“ bei Amsterdam gereist,  um nachzuempfinden, inwieweit die Beschreibungen meiner damaligen Reisebekanntschaft mit meiner Wahrnehmung dieser Stadt und ihrem Lebensraum für alle Kulturen und Lebenskonzepte der Realität standhalten. Dazu sollte man wissen, dass das Leitbild Almeres mit dem amerikanischen Architekten und Designer William McDonough* in den Almere Principals festgelegt wurde und sich nach seiner „Cradle2Cradle Philosophie“ orientiert. Das Konsum-Motto lautet: von der Wiege zur Wiege und Gegenstände, Materialien, Rohstoffe sollen im Sinne eines Upcycling nicht auf dem Müll landen, sondern bestenfalls eine Aufwertung und Wiederverwendung erfahren. 

Seit meinem ersten Besuch in Almere schreibe ich über die Stadt, ohne bisher etwas veröffentlicht zu haben. Im Rahmen einer Schreibreise, die ich mit dem Schreib-Center der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt unternahm, ist mir vieles klarer geworden. War zuerst eine kürzere Reportage geplant, soll es doch ein umfangreicheres Werk über lebenswerte Städte der Zukunft werden, das ich nach dem Besuch der EXPO Floriade 2022 erweitern möchte. Die Idee, eine Dissertation darüber zu machen, die als Konzept schon ziemlich ausgereift war, habe ich nach dem pandemiebedingten Wirrwarr mit Zugangsbeschränkung für Ungeimpfte an der Uni Klagenfurt wütend verworfen. 


Mit Sprache gestaltend informieren – Public Relations

Der Vergleich des jungen, offenen, experimentierfreudigen, multikulturellen und pulsierenden Almere mit der Stadt für die ich arbeite und in der ich lebe, ist  zu einer Leidenschaft für mich geworden. Es hilft mir, vieles zu kompensieren, was mir hier nicht gefällt, andrerseits habe ich einiges in Klagenfurt mehr zu schätzen gelernt: die langen warmen Sommer, die Wasserqualität der Seen, das Idyllische einer Stadt mit Geschichte, das kulturelle Leben, das in Almere noch nicht so vielseitig ist. Besonders spannend in Klagenfurt finde ich die Entwicklung im Lendhafen, die Co-Working-Spaces Hafen11 und Anlegestelle, für die ich bis 2016 im Rahmen meiner Tätigkeit in der Kulturabteilung als Projektmanagerin und PR-Frau zuständig war. Das Medieninteresse an diesen Zukunftsprojekten war nahezu euphorisch, die „Presse“ und viele regionalen und überregionalen Zeitschriften, Magazine, Architekturjournale, der ORF und ausländische Medien berichteten über die innovativen Entwicklungen in Klagenfurt. 
Der Begriff Kreativwirtschaft war 2010 in Kärnten noch ein Fremdwort und mit viel Informationsarbeit gelang es uns, eine Welle auszulösen, die vielfach Fortführung findet. Im Hafen 11 befand sich auch mein Zweitbüro, von 2008 bis 2016 war ich selbständig mit einer  PR-Agentur und arbeitete mit Werkvertrag für die Stadt. Die Ansiedlung dieser spannenden Szene von jungen Architekten, Filmemachern, Fotografen, App-Entwicklern, IT-Fachleuten, Landschaftsarchitekten, PR- und Werbeagenturen, Kulturvereinen usw. findet jetzt mit der Hafenstadt und den neuen Start-ups im Hafenviertel, einer großartigen Lokalszene, Ateliers uvm. eine vielversprechende Fortführung. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt fundierter und nachhaltiger Kommunikationsarbeit „zuzuschreiben“.
Die wenigsten wissen, dass das Viertel bereits vor 30 Jahren boomte, bevor es in einen langjährigen Schlaf versank. Auch an der damaligen Szene war ich federführend beteiligt. Mit einer Kooperative von jungen Unternehmern – wir betrieben den Kleinen Buchladen (die erste Alternativbuchhandlung in Klagenfurt), den Laden (Second Hand Shop und Alternativladen), die Firma Blitz (Entrümpelungen, Abtransporte) und die Fabrik (Restaurierung, Werkstätten) mit Sitz im Lendviertel, daneben gab es die Rote Lasche, ein Szenelokal im heutigen „Wohnzimmer“ und das Jazzcafé, weiters gab es hier mehrere Filmproduktionen und damals schon die Vollkornbäckerei.

Wissenschaftliches Schreiben
Zu der Zeit machte ich gerade meine ersten wissenschaftlichen Schreibversuche an der Uni, schrieb für eine Frauenzeitschrift und die Uni-Zeitung KLAFTER, parallel dazu arbeitete ich in den oben erwähnten Betrieben.
10 Jahre Studium mit längeren Reise- und Arbeitspausen war damals noch kein Problem. Um auf neue Gedanken zu kommen, zog ich nach vier Jahren Arbeitspause, während ich weiter inskribiert blieb, für ein Jahr in die Schweiz und dann zum Schreiben der Diplomarbeit nach Wien, wo ich mich auf der Nationalbibliothek herumplagte und ewig auf bestellte Bücher – die meisten waren verliehen – wartete. Wie praktisch war es doch in der Freihandaufstellung im Lesesaal der Uni Klagenfurt mit Blick ins Grüne und Seitensprüngen zum See.
Das wissenschaftliche Schreiben war keine große Herausforderung für mich, sowohl Seminararbeiten wie auch die Diplomarbeit absolvierte ich ohne Feedback meiner Betreuer mit guten Resultaten. Mit dem Thema meiner Diplomarbeit konnte damals kaum jemand etwas anfangen: „Ingeborg Bachmanns Prosa – Bewegung zwischen Dekomposition, Indifferenz und Utopie“, inspiriert von den Poststrukturalisten Derrida, Bataille, Cixous, Baudrillard, Deleuze, Lacan, Foucault usw. Erst kürzlich hob ich das immer noch jungfräuliche, damals von meinem Betreuer hochgelobte „Meisterwerk“ im Archiv der Bibliothek aus und war selbst überrascht von meinen selbständigen Interpretationsansätzen und dem hohen Schreibniveau. Um zu erfahren, wieweit Argumentationslinie und wissenschaftliche Querbezüge im derzeitigen philosophischen Diskurs noch relevant sind, bat ich kürzlich eine Unidozentin, die einen Bachmann-Kongress organisiert, sich das Buch durchzusehen und bin gespannt auf das Feedback.

Journalistisches Schreiben
Meine weitere Schreibbiografie ergab sich fast wie von selbst. Ein Zufall führte mich nach Studienende während eines Jobs als Abonnenten-„Keilerin“ der Kärntner Krone zwei Stockwerke höher zum damaligen Leiter des Kulturressorts, dem Publizisten Humbert Fink. Den Einstandstest, eine Kritik über ein Beethoven-Klavierkonzert zu schreiben, bestand ich mit Bravour, ohne eine Ahnung von Musik zu haben. Dieser Einstieg in die Welt des „Qualitätsjournalismus“ sollte nicht die letzte Erfahrung mit einer für mich mehr und mehr fragwürdigen Mediensprache sein, die sich wie ein Blatt im Wind nach dem Run auf den täglichen „Aufreißer“, den nächsten Skandal oder das schrecklichste Unglück biegen und wenden muss. Längere Stationen im Kulturressort der Kleinen Zeitung, freie Mitarbeit bei der Brücke, zwei Universitätszeitschriften und bei Magazinen wie Advantage und Architekturjournalen sowie der Aufbau und die Redaktionsleitung des Kunstforum Kärnten waren weitere Etappen meiner Schreibbiografie.

Die bedeutendste Station meiner Schreibgeschichte war eine mehrjährige Anstellung in der ORF-Kultur- und Wissenschaftsredaktion, wo ich Literaturmagazine, Interviews, Features für Ö1, Bachmannpreis-Dokumentationen, Kulturmagazine für Radio und Fernsehen redaktionell erstellte und Texte von Schriftstellern unter anderem für Hörspiele redigierte und bearbeitete. Journalistisches Schreiben war für mich die beste Schreibschule, ich lernte Komplexes auf verständliche und prägnante Inhalte zu komprimieren, ohne Wesentliches auszusparen. Parallel dazu schrieb ich als freie Journalistin für mehrere Zeitschriften über Kultur, Architektur oder Kreativwirtschaft.

Öffentlichkeitsarbeit, Ghost-Writing, Projektentwicklung
Nach mehreren Jahren in der Medienwelt mit all ihren Einflussnahmen durch Politik und Wirtschaft durfte ich als PR-Managerin das Architekturhaus Kärnten acht Jahre lang betreuen um dann nach einer längeren Kinderpause als selbständige PR-Beraterin eine neue Welt kennenzulernen. Ich entwickelte Projekte wie das Kunstforum Kärnten, Bildungsdorf Kärnten, Haus der Kulturen, Kulturraum Klagenfurt, Kreativwirtschaft Klagenfurt und einiges mehr, machte Image- und Pressearbeit, war redaktionell für mehrere Homepages zuständig und entwickelte den Kulturserver Klagenfurt, für den ich bis jetzt leitend verantwortlich bin . Immer standen die Sprache und das Schreiben im Mittelpunkt.
Seit 2008 bin ich für die Stadt Klagenfurt für mehrere Bereiche zuständig: Presse- und Textarbeit, Konzipierung von Kulturprojekten, Redaktionsleitung Kulturhomepage, Medien-Consulting und bis vor drei Jahren für die Kreativwirtschaft mit der Entwicklung der Co-Working-Spaces Hafen11 und Anlegestelle. Dass es nach Jahren des Schreibens im Sinne und Auftrag einer Institution und dem Ghost-Writing für Personen in Machtpositionen nicht ganz einfach ist, wieder frei zu formulieren und die eigene Sprache zu finden, erfahre ich aktuell besonders intensiv.
Sprache schafft Realität, Sprache verändert Identität. 

 

Das Beste zum Schluss
Nach dem Entschluss, meine Arbeitszeit im öffentlichen Dienst zu reduzieren, berufsbegleitend zu studieren und wieder journalistisch und auch wissenschaftlich zu arbeiten, schließt sich der Kreis und ich kehre mit allen Erfahrungen aus Wissenschaft, Medienarbeit und Public Relations zurück zu den Anfängen. Mein Anliegen ist es, Journalismus- und Wissenschaftssprache zusammenzubringen, verständlich und nachvollziehbar für eine breitere Zielgruppe zu formulieren sowie relevante und mir wichtige Zukunftsthemen unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Kriterien zu publizieren. 

Schreiben ist ein zutiefst individuelles gestalterisches Mittel mit großer Kraft. Ich wünsche mir, dass im wissenschaftlichen Duktus der Mut zum persönlichen Statement nicht verloren geht, dass den Studierenden der Wert ihres Beitrags zum Wissenschaftsdiskurs entsprechend ihrer Überzeugung und Interessenslage bewusst wird und sie Unterstützung dabei finden, in einem immer enger werdenden Korsett wissenschaftlicher Arbeitsvorgaben ihre authentische Handschrift sichtbar zu machen. Nur so kann das Neue in die Welt kommen und nur so wird langjährige harte Arbeit sinnvoll.

Nicht für das Universitätsarchiv, für das Leben schreiben wir!

Waltraud Isimekhai

 

Waltraud Isimekhai
Waltraud Isimekhai

Waltraud Isimekhai