Expo Floriade
Expo Floriade

In der Nähe von Amsterdam wächst seit 40 Jahren eine Stadt nach Plan. Auf 250 Quadratkilometern Neuland, genannt Polder, der aus dem Meer gewonnenen neuen Provinz Flevoland, wohnen zur Zeit 250 000 Menschen aus allen Kulturen. Namhafte Architekten und Städteplaner unter Federführung des amerikanischen Vordenkers William Mc Donough haben hier ihre Visionen umgesetzt, streng nach den Almere Principals, einer Art Stadtentwicklungskonzept und Leitbild in einem.

Expo Floriade, Almere 2022

Dieser Text  wurde inspiriert von acht Besuchen in Almere, das unter dem Motto „Growing green city“ den Zuschlag für die EXPO Floriade 2022 erhielt und sich seit fünf Jahren auf dieses internationale Großevent zum Thema Zukunftsstadt vorbereitet. Almere liegt 5 Meter unter dem Meeresspiegel und wartet mit einer Fülle von innovativen, städtebaulichen Projekten und Ideen auf.

Alles so bunt, jung und grün hier, Menschen aus vielen Kulturen, vor allem mit afrikanischem und asiatischem Hintergrund, viele Kinder, frischer Wind, weiter Blick und alles neu … das waren einige meiner ersten Eindrücke, als ich 2017 zum ersten Mal nach Almere reiste. Begleitet von einem alten Freund, der seit 30 Jahren in Almere lebt, als Stadtführer unzählige Gruppen von internationalen Architekten und Touristen aus aller Welt durch die Stadt führte, konnte ich unmittelbaren Einblick in Entstehung, Architektur, Philosophie und Gedankenwelt dieser eigenwilligen Stadt mit ihrer ungewöhnlicher Bevölkerungsstruktur gewinnen.

 

Growing Green City Almere

Experimente sind in dieser Stadt mit 50 Prozent Wasserflächen, weiten Naturreservaten mit Wildtieren und dschungelartigen Wäldern das beliebteste Gestaltungsmoment. Es gibt Platz für individuelle Lebenskonzepte, Kulturen und Philosophien aller Art. Viele Bewohner stammen aus der zweiten und dritten Generation von Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien Indonesien und dem südamerikanischen Surinam mit seiner zu 40 Prozent aus Afrika stammenden Bevölkerung. Bis 2030 soll Almere 350.000 Einwohner haben, die Stadt und damit die Mietpreise wachsen rasant. Die Bevölkerungsstruktur ist jung, weißschwarzgelb-bunt zusammengewürfelte Familien gehören zum Stadtbild.

Einklang von Natur und Architektur

Natur hier, Avantgarde jenseits holländischer Grachtenidylle da. So kontrovers wie die Welt ist auch Almere. Die Stadt ist polyzentrisch geplant und wird nach Fertigstellung aus 9 Städten in einer Stadt bestehen, die autonom funktionieren, jede mit eigenem Stadtkern, Versorgungssystem und authentischem Charakter.

Kippende Wohntürme und Blob-Design im Zentrum Almere-Stad, experimentelle Siedlungen wie „de fantasie“ oder „de realiteit“ zeugen von Kühnheit und dem Willen zur Veränderung. Hier hat sich die crème de la crème der Architektur ausgetobt, David Chipperfield, Rem Kohlhaas, Rene van Zuk, William Alsop und viele mehr schafften Raum für alle Bedürfnisse. Ob man in einer Smart-City mit unterirdischem Verkehr, unterirdischem Müllabsaug-System und horizontal geschichteten Lebensräumen leben möchte (über den Dächern der Einkaufsstadt sind Wohnsiedlungen und Dachgärten angelegt), einem Tinyhouse-Wohnpark, im Co-Working und Co-Housing-Space, in einer Landkooperative, in einem autarken Selbstversorger-Dorf, am Meer oder Fluss … in Almere soll in Zukunft alles möglich sein.
Allein am Floriade-Gelände wird nach Ende der Expo ab Herbst 2022 ähnlich der chinesischen Forest-City Liuzhou grüner Wohnraum für 10000 Menschen auf einer Halbinsel im See zur Verfügung stehen. Geplant wird das neue Stadtviertel und das Floriade-Gelände von MVRDV, fünf holländischen Architekturgrößen mit Mastermind Winy Maas, bekannt für spektakuläre, internationale Großprojekte.

Verkehr und Transport
Zum Konzept des Masterplans von Almere gehört auch die Trennung der Wege. Busse, Pkws, Fußgänger und Fahrräder haben eigene Straßen, 600 Kilometer breit ausgebauten Wege, die durch Stadt, Wald und Feld führen, stehen allein den Radfahrern zur Verfügung. Weder Wetter noch Paketgröße halten die Holländer mit ihren Transporträdern vom Biken ab, ein Radfahrer mit Waschmaschine im Gepäck sollte nicht verwundern. Abenteuerlichste Fahrzeuge, z B  speziell für Kindergruppen konstruierte Segways mit Badewannen ähnlichem Zubau dienen Großfamilien, Lehrern oder Hortnerinnen zum Transport von bis zu 10 Kindern  zu diversen Ausflugszielen. Allein der See im Stadtzentrum ist ein Natur- und Wassersportparadies mit einem Rundparcours von 7 Kilometern und 4 Stränden, an denen sich unzählige Wasservögel gemeinsam mit der Bevölkerung vergnügen.

Am Strand von Utopia
Ich sitze am Holzsteg des weitläufigen Binnensees Weerwater im Stadtzentrum von Almere und lasse die Füße ins Wasser baumeln. Die Halme des dichten Schilfgürtels biegen sich im Wind. Links von mir im Nest am Boden brütet ein Schwan und beobachtet mich gelassen. Vor mir zischen Wasserskifahrer, gezogen an elektrisch betriebenen Seilen vorbei und vollführen ihre Kunststücke. Hinter mir ziehen unzählige Radfahrer ihre Runden rund um den See. Mein Blick schweift über das Wasser, am Horizont das neue Festspiel-Theater, auf Stegen über dem See schwebend, flankiert von zwei futuristisch anmutenden Hochhäusern, deren schräge Fassaden und versetzte Kuben die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft zu setzen scheinen.

Im See rechts von mir die kleine Insel Utopia, welche sich das junge Start-Up Urban Greeners mit ihren Landschaftsarchitekten, Biologen, Wasserbau-Ingenieuren und Umweltaktivisten für die Forschung und Umsetzung ihrer Projekte erobert hat.
Was wird von Utopia und den Almere-Principals bleiben, wenn sich die Stadt verdoppelt oder verdreifacht hat? Kann das Idealbild einer Vorzeigestadt der Zukunft aufrecht bleiben, wenn immer mehr Immobilieninteressen den Lebensraum enger werden und die Wohnkosten steigen lassen? Und wie wird sich die über den Erdball gespannte €orona-Pandemie auf die Floriade auswirken? Im Mai 2022 werde ich mehr wissen, wenn ich Almere und die Floriade mit Beiträgen aus rund 100 Ländern besuchen werde.

 

Waltraud Isimekhai